Sonntag, 4. Oktober 2009

Der Papst, der nicht geschwiegen hätte


Im Gegensatz zu seinem Nachfolger, Pius XII. (der Papst, der geschwiegen hat), hätte Pius XI. sehr wohl seine Stimme zur Judenverfolgung und zum Holocaust erhoben - wenn er nicht im Februar 1939 gestorben wäre. In Ansätzen (und nicht nur) tat er dies bereits 1938. Hatte er anfangs den Faschismus - wohl vor allem als Bollwerk gegen den Bolschewismus - befürwortet, so distanzierte er sich gegen Ende seines Pontifikats immer mehr vom Faschismus und von Hitler. Aber er wurde von "Gegenströmungen" innerhalb der römischen Kurie, allen voran durch Eugenio Pacelli (dem späteren Pius XII.) daran gehindert, die das "gute" Verhältnis zu Nazi-Deutschland nicht trüben wollten - um keinen Preis.

Ernst von Weizsäcker, damaliger Botschafter des Dritten Reiches beim Heiligen Stuhl - also jemand, der wohl etwas von den vatikaninternen Geschehnissen und Strömungen wusste, schrieb in seinen Memoiren:

«Wenn Pius XI. länger gelebt hätte, wäre es gewiss zum öffentlichen Bruch gekommen
[mit Hitler und den faschistischen Regimes]»

Quelle (ital.): Giovanni Miccoli, der an der Uni Triest Geschichte des Christentums lehrt, in einem Radiointerview vom 2. April 2009; Titel der Sendung: "Pio XI. Un papa solo contro i totalitarismi" ("Pius XI. Ein Papst alleine gegen den Totaliarismus"); das Audio funktioniert leider nicht mehr.

David Kertzer und Emma Fattorini

und manch andere ...

Es ist besonders nach der im September 2006 erfolgten Teilöffnung der Vatikanischen Geheimarchive für die Zeit des Pontifikats Pius' XI. (1922-1939), dass sich aufgrund der neu zugänglichen Dokumente die Stimmen zu seiner Verteidigung, wenn nicht gar zu seiner "Rehabilitierung" mehren, und zwar von Seiten unabhängiger Historiker. Gleichzeitig zeichnet sich noch deutlicher ab, wie sein Nachfolger Pius XII. (Eugenio Pacelli) und "Gleichgesinnte" ihn in seinen Bemühungen behinderten.

Die beiden Aussagen von David Kertzer und Alberto Melloni sind aus einem Artikel vom 6. Oktober 2006:

David Kertzer
Historiker, Autor u.a. von "Die Päpste gegen die Juden":

Historian Kertzer says that Pius XI was aware he was making deals with devils in order to secure advantages for the Catholic church, but that his attitude changed toward the end of his papacy. "The pope began to regret to some extent what he had done and he really had some crisis of conscience", Kertzer says.

Pius XI. sei sich bewusst gewesen, dass er einen "Pakt mit dem Teufel" einging, um sich Vorteile für die katholische Kirche zu sichern, dass er aber seine Haltung gegen Ende seines Pontifikats änderte. "Der Papst begann, in gewissem Masse zu bereuen, was er getan hatte, und er durchlebte wahrhaftig einige Gewissenskrisen."

Reue ist das richtige Wort, denn in seinen Jahren als Nuntius in Polen hatte er sich sehr abschätzig über die Juden geäussert. Andererseits war er seit seiner Jugend dem Rabbi von Mailand in Freundschaft verbunden.

Alberto Melloni
ist Dozent für Geschichte des Christentums:

"In the pontificate of Pius XI, there is a change from initial indulgence if not sympathy for totalitarianism as a way to contain the Communist threat, to a different attitude … against Nazism, and against fascism and racial discrimination, deportation, and extermination."

"Während des Pontifikats Pius' XI. sehen wir einen Wandel von anfänglicher Duldung wenn nicht gar Sympathie für den Totalitarismus als eines Mittels, die kommunistische Gefahr einzudämmen, zu einer veränderten Haltung ... gegen den Nationalsozialismus und gegen den Faschismus und die Rassendiskriminierung, Deportation und Vernichtung."

(systematische Judendeportationen und Massenmorde gab es ja vor Pius' XI. Tod im Februar 1939 noch keine, wohl aber schon ausreichend
"Ausgrenzungsmassnahmen" bis hin zu Verschleppungen und Mord - Ankündigungen, was noch folgen würde, gab es vielleicht bereits ...)

(Alberto Melloni war es auch, der Ende 2004 im "Corriere della Sera" die gerade in Frankreich wiederentdeckten Instruktionen Pius XII. (des Nachfolgers Pius XI. also) abdruckte, wonach während der Naziherrschaft gerettete jüdische Kinder, die getauft worden waren, nicht an ihre Eltern zurückzugeben seien (Befehl, dem sich sein Nachfolger Johannes XXIII. widersetzte).

Emma Fattorini

Dozentin für Gegenwartsgeschichte an der Uni "La Sapienza" in Rom und Autorin des 2007 erschienenen Buches: "Pio XI, Hitler e Mussolini - la solitudine di un papa"

(gibt es leider nur auf Italienisch). Ihr ganzes Buch ist darauf angelegt, die These des "alleingelassenen" Papstes anhand der neu zugänglichen Dokumente zu belegen, was ihr auch sehr gut gelingt. Auch mein Blogtitel "der Alleingelassene" ist von ihrem Buchtitel inspiriert.

Giovanni Miccoli

lehrt Geschichte des Christentums an der Universität Triest. Er ist Autor des Buches: "I silenzi e i dilemmi di Pio XII."
Auch er schliesst sich in vielen Stellungnahmen Emma Fattorini an, z.B. in seinem Radiointerview vom 2.4.2009. Ob er auch Aufsätze darüber geschrieben hat, ist mir nicht bekannt.

Ein Video zur Einstimmung


Dieses Video liebe ich: es zeigt in sehr schönen und stimmungsvollen Bildern das Rom zur Zeit Pius' XI. Ihn selber bekommt man auch zu sehen, wenn auch nicht allzu scharf; sein "zeitgemässer" Hut ist aber gut zu erkennen ...





Inhaltlich hingegen habe ich so Etliches zu bemängeln (nur so nebenbei): vor allem, Pius XI. habe "im Einverständnis mit Pacelli (Pius XII.)" jene Enzyklika gegen Rassismus und Antisemitismus in Auftrag gegeben. Das ist völliger Unsinn. Pacelli hätte niemals sein Einverständnis dazu gegeben, weswegen Pius XI. sie auch im Geheimen in Auftrag gab - so geheim man eben so etwas halten kann. Auch "die Kirche scheine dabei gewesen zu sein, ihre Armeen (gegen den Faschismus und Nationalsozialismus) zu rüsten", ist nicht nur übertrieben, es ist eine blanke Lüge. Pius XI. tat es (fast) im Alleingang.
Ferner wird auf ganz subtile Weise suggeriert, Pius XI. könnte von einem seiner Ärzte - dem Vater der Geliebten Mussolinis - umgebracht worden sein ..., nun ja, ausgeschlossen ist es ja nicht, nur wüsste ich sonst noch einige "Hochwürden" zu nennen, die gleichermassen oder gar mehr Interesse gehabt hätten, ihn "aus dem Wege zu haben".

Aber lasst Euch nicht durch solch "kleine Unstimmigkeiten" verstimmen und geniesst das Video!

Irene Harand: "Sein Kampf" 1935


Irene Harand über Pius XI. (1933)

Irene Harand, eine Wiener Katholikin, schrieb 1935 eine "Antwort an Hitler", in der sie Punkt für Punkt seine in "Mein Kampf" dargelegten Meinungen über die Juden widerlegte.

Welch schönere Distanzierung von Hitlers Hasstiraden als ihr Buchtitel: «Sein Kampf»

2005 wurde das Buch von Franz Richard Reiter im Wiener Ephelant-Verlag neu aufgelegt (steht natürlich in meinem Bücherregal). Auch im Internet ist es hier als pdf abrufbar: "Sein Kampf - Antwort an Hitler" (von Irene Harand, 1935)

Auf Seite 41 steht über Pius XI. (es ist seine einzige Erwähnung im Buch):

«Die Nachrichtenagentur "Central News" verbreitete im August 1933 eine römische Meldung, der zufolge der Papst unter dem Eindruck der Nachrichten über die fortgesetzten Judenverfolgungen in Deutschland sich abfällig über die antisemitische Bewegung geäussert hätte.
Papst Pius XI. erklärte, die Judenverfolgungen seien ein Armutszeugnis für die Zivilisation eines grossen Volkes. Er erinnert daran, dass Jesus Christus, die Mutter Gottes und ihre Familie, die Apostel und viele Heilige jüdischer Abstammung waren und dass die Bibel eine Schöpfung der Juden sei. Die arischen Völker hätten, sagte der Papst, keinen Anspruch auf Überlegenheit über die Semiten.»


Sind Thomas Brechenmacher und Hubert Wolf bei ihrer Durchforstung der Vatikan. Geheimarchive denn nicht auf diese "römische Meldung" aus dem Jahre 1933 gestossen? Haben sie sie je publiziert?
Im Internet finde ich sie jedenfalls ausser im Buche Harands selber nur ein einziges Mal erwähnt, hier, und erst noch auf Englisch, in einer Aufsatzsammlung "Christian Responses to the Holocaust" (S. 132: "Irene Harand's Campaign Against Nazi Anti-Semitism in Vienna, 1933-1938" von Gershon Greenberg).
Sonst gar nirgends ...


 Ein bewegtes Leben - Irene Harand (1900 - 1975)

Irene Harand arbeitete in den späten 20er-Jahren als Angestellte beim jüdischen Rechtsanwalt Moriz Zalman in Wien, mit welchem sie 1930 die "Österreichische Volkspartei" gründete.
1933 gründeten sie wiederum zusammen den "Weltverband gegen Rassenhass und Menschennot", der bald nur noch "Harand-Bewegung" genannt wurde, auch im Gegensatz zur "Hitler-Bewegung"; diese zählte bald etwa 36'000 Mitglieder weltweit.
Ihre Wochenzeitschrift "Gerechtigkeit", die von 1933 bis 1938 in einer Auflage von 28'000 Exemplaren - für kurze Zeit auch in Polnisch und Französisch - erschien, trug auf der Titelseite das Motto: "Ich bekämpfe den Antisemitismus, weil er unser Christentum schändet".
Im März 1933 veröffentlichte Irene Harand bereits ein Buch mit dem Titel "So? oder so? - Die Wahrheit über den Antisemitismus".
1935 dann ihr Buch "Sein Kampf - Antwort an Hitler", das auch ins Englische und Französische übersetzt wurde.
In ausgedehnten Vortragsreisen durch Europa und die USA versuchte sie die Öffentlichkeit gegen den Nationalsozialismus und speziell gegen den Antisemitismus zu mobilisieren.
Wie sehr ihre Aktivitäten ernst genommen wurden, beweisen mehrmalige Proteste des deutschen Gesandten Franz von Papen bei der österreichischen Regierung; diese seien ein "Eingriff in innerdeutsche Angelegenheiten".
Beim Anschluss Österreichs 1938 hielt sie sich glücklicherweise gerade in England auf, von wo aus sie später mit ihrem Mann in die USA emigrierte. Moritz Zalman wurde 1940 im KZ Sachsenhausen umgebracht.
Auf Irene Harand wurde ein Kopfgeld von 100'000 Reichsmark ausgesetzt; ihre Bücher in Salzburg öffentlich verbrannt.
1968 wurde sie von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als "Gerechte unter den Völkern" geehrt.
Sie starb am 2. Februar 1975 in New York.

Pius XI. verlässt bei Besuch Hitlers Rom

Als am 3. Mai 1938 Hitler auf Staatsbesuch in Rom eintraf, begab sich Pius XI. demonstrativ auf "Urlaub" nach Castelgandolfo, nicht ohne vorher alle Lichter im Vatikan zu löschen, die Fensterläden seines Palastes zu
         Pius XI. - in
 Diplomatie nicht so
  versiert wie sein
         Nachfolger
verschliessen, die Vatikanischen Museen für die Dauer des "hohen Besuches" schliessen sowie die Zufahrt zum Petersdom absperren zu lassen.

Der Nuntius in Italien sollte dem Staatsempfang im Quirinal fernbleiben, und auch den Bischöfen untersagte er die Teilnahme an Empfängen.
Den "Osservatore Romano" wies er an, jegliche Berichterstattung über das Treffen der beiden Staatsoberhäupter zu unterlasssen. Dafür druckte die Zeitung am Tage der Ankunft Hitlers auf der ersten Seite so quasi als
"Begrüssung" einen Bericht über die "Irrlehren der Rassenideologie".

Am Tage zuvor erschien auch auf Seite eins die Meldung mit Bild: "Il Santo Padre a Castel Gandolfo". Der Heilige Vater habe am Samstag, dem 30. April um 17 Uhr Rom verlassen, weil ihn die römische Luft krank mache.

Wehten doch in den Strassen Roms Fahnen mit anderen Kreuzen denn das christliche.




Zeremonie zu Ehren Hitlers im Mussolini-Forum des Olympiastadions in Rom, Mai 1938

Ich hoffe, Pius XI. sass gerade unter seinem Baldachin, als sogar am Himmel die unheilvollen Vorzeichen aufkreuzten: Flugzeugformation in Form eines Hakenkreuzes über Rom (etwa 9:06 Minute).

«Spirituell sind wir Semiten»

Am 6. September 1938 hielt Pius XI. eine Rede vor belgischen Pilgern, in welcher er den Antisemitismus verurteilte.

Am Tage zuvor war in Italien die erste antijüdische "Massnahme zur Verteidigung der Rasse" eingeführt worden, welche die Juden, Schüler wie Dozenten, aus öffentlichen Schulen und Universitäten ausschloss. Am 7. September sollte dann jene in Kraft treten, die den ausländischen Juden den Wohnsitz in Italien verbot und sie aufforderte, innert sechs Monaten das Land zu verlassen; einschliesslich jener, die nach dem 1.1.1919 eingebürgert wurden und denen nun die Staatsbürgerschaft wieder entzogen wurde.

Die Rede, die Pius XI. in Castelgandolfo, der päpstlichen Sommerresidenz hielt, wurde von einem der Pilger, Monsignor Picard, der Chef einer katholischen Radiostation, auf ausdrücklichen Geheiss des Papstes hin mitstenografiert und darauf in "La Documentation Catholique" abgedruckt.

In der italienischen (katholischen) Presse hingegen wurde sie nicht einmal erwähnt; der "Osservatore Romano" veröffentliche zwar die Rede, liess aber die Passage gegen den Antisemitismus weg (!), die "Civiltà Cattolica" erwähnte die Rede überhaupt nicht. Manche Italiener erfuhren davon nur aus der ausländischen Presse.

Den Text seiner Rede, die er "in un getto" (wie in einem Guss) vorbrachte, finde ich am ausführlichsten bei Emma Fattorini in "Pio XI, Hitler e Mussolini" wiedergegeben. Weder auf deutsch und nicht einmal auf Französich ist sie im Internet, selbst nach stundenlanger Suche, zu finden. Untenstehende ist meine Übersetzung aus Emma Fattorinis Buch:

«An diesem Punkt konnte der Papst seine Gefühlsregung nicht mehr unterdrücken. ... Und mit Tränen in den Augen zitierte er jene Passagen bei Paulus, die unsere geistige Abstammung von Abraham hervorheben: die Verheissung wurde Abraham und seinen Nachkommen zuteil ... Hört diese Worte aufmerksam: Abraham ist uns als unser Patriarch, unser Ahne vorgestellt. Der Antisemitismus ist mit dem hehren ("sublime") Gedanken und seiner Wirklichkeit, wie sie in diesem Text zum Ausdruck kommen, nicht vereinbar. Der Antisemitismus ist eine verabscheuungswürdige Haltung, damit dürfen wir Christen nichts zu tun haben. ... Durch Christus und in Christus sind wir die spirituellen Nachkommen Abrahams. ... Jedesmal wenn ich die Worte "das Opfer unseres Vaters Abraham" höre, kann ich nicht umhin, zutiefst davon berührt zu sein. Es ist für Christen nicht legitim, am Antisemitismus teilzuhaben. Wir aberkennen niemandem das Recht auf Selbstverteidigung und dass er das Nötige zur Wahrung der legitimen Interessen unternehmen darf. Doch der Antisemitismus ist nicht annehmbar. Spirituell sind wir alle Semiten.»

Tönt das nach leeren Worten? Nein, ich glaube fest, die in der Presse erwähnte Gefühlsregung Pius' XI. war wahrhaftig und echt.

Eine ungerechte Verurteilung Pius' XI.

Oft wird (aus entgegengesetzten Gründen) jener Satz in der Rede: «Wir aberkennen niemandem das Recht auf Selbstverteidigung und dass er das Nötige zur Wahrung der legitimen Interessen unternehmen darf» zuungunsten Pius' XI. ausgelegt, ja er mache geradezu seine Rede wertlos, da er damit implizit die Notwendigkeit der Selbstverteidigung und somit die "jüdische Gefahr" anerkenne.

Wenn von Apologeten seines Nachfolgers Pius XII. darauf hingewiesen wird, können wir erahnen, dass dies einzig aus dem Grund geschieht, den Kontrast zwischen den beiden Päpsten nicht allzu deutlich erscheinen zu lassen.

Aber auch wenn der Einwand in guter Absicht vorgebracht wird:
Die katholische Presse jener Zeit, allen voran die "Civiltà Cattolica", faselte ständig von der Notwendigkeit einer Abgrenzung und warnte vor der "jüdischen Gefahr":
Im März 1938 zum Beispiel warnte sie, dass die "fatale Gier der Juden nach finanzieller Übermacht" der eigentliche und tiefere Grund sei, weshalb das Judentum "eine Quelle ständiger Unruhen und eine fortdauernde Gefahr für die Welt" darstelle. Als Gegenmassnahme schlug sie eine "unseren Tagen gemässe Form der Abgrenzung" vor.

Im August 1938 dann wurde in der faschistischen Zeitung "Regime Fascista" eine Serie äusserst judenfeindlicher Artikel der "Civiltà Cattolica" aus dem Jahre 1889 wieder neu aufgetischt, und zwar als Entgegnung zu Pius' XI. kurz zuvor erfolgter Stellungnahme gegen den Antisemitismus.

Es ist also nicht nur anzunehmen, sondern es war gewiss so, dass Pius XI. in seiner so leidenschaftlich vorgebrachten Rede jenen Satz fast schon automatisch miteinfliessen liess, als Entgegnung zur ständig als Legitimierung der Rassengesetze vorgebrachten Notwendigkeit des Selbstschutzes.

Versteckte Attacken gegen Pius XI.

Im Juli 1938 erschien in verschiedenen italienischen Zeitungen das von zehn Universitätsprofessoren verfasste und unterzeichnete sog. "Rassenmanifest" ("Manifesto della razza"), das bald darauf von der Regierung als Grundlage zur Ausarbeitung der Rassengesetze herangezogen wurde.

Pius XI. nennt die darin enthaltenen Thesen eine wahre Apostasie (Abfall von Gott/vom Glauben).
In mehreren Reden betont er, katholisch bedeute "universal, nicht rassistisch, nationalistisch, separatistisch."
Auch äussert er sich abfällig, ob Italien es denn nötig habe, nun unseligerweise Deutschland nachahmen zu wollen.

Dem folgen unmittelbar Gegenattacken
> seitens der Faschisten
> der "Civiltà Cattolica"
> durch Mussolini persönlich

Jesuiten und "andere Katholiken"

Im August 1938 veröffentlichte die Zeitung "Regime Fascista" eine Serie äusserst judenfeindlicher Artikel der Jesuitenzeitschrift
"Civiltà Cattolica" aus dem Jahre 1889, um Pius XI. vor Augen zu führen, dass diese antijüdischen Massnahmen durchaus im Sinne der Kirche seien (nicht dass "Civiltà Cattolica" nach 1889 ihre Judenhetze eingestellt hätte, diese Serie war nur eine der schlimmsten).

Als Begleitkommentar heisst es im "Regime Fascista":

«Nach dem Studium derselben [judenfeindliche Artikel in der "Civiltà Cattolica"] dämmert es uns, dass die modernen Staaten und Gesellschaften, und sogar die gesundesten und mutigsten Nationen Europas, Italien und Deutschland, sehr viel von den Patres der Jesuiten zu lernen haben. Und wir gestehen, dass der Faschismus dem Rigorismus der "Civiltà Cattolica", sei es in deren Vorsätzen, sei es in der Ausführung*, bei weitem unterlegen ist. Doch wir gestehen gleichermassen unsere schmerzliche Befremdung und und unsere Empörung, wenn wir diesen gerechten und grossherzigen ("generoso"!) Kampf der weisen und untadeligen Jesuiten der Haltung anderer Katholiken gegenüberstellen.»

Mit diesen "anderen Katholiken" ist wohlweislich Pius XI. gemeint:

«Wären wir nicht Katholiken, hätten wir heute die Worte des Heiligen Vaters mit Begeisterung aufgenommen, wie dies von Seiten der Kommunisten, Freimaurer, Sozialisten, Juden und Protestanten geschehen ist.»


(* z.B. hatte das Ghetto in Rom den längsten Bestand in ganz Europa, erst 1870 wurden seine Mauern definitiv niedergerissen, nebst weiteren antijüdischen Massnahmen, auf die hier wohl angespielt wird.)

N.B. Am 9. September, drei Tage nach der bewegten Rede Pius' XI. ("Spirituell sind wir alle Semiten"), verteidigte "Civiltà Cattolica" ihre 1889er-Kampagne; diese sei vom "Spektakel jüdischer Aufdringlichkeit und Arroganz inspiriert".

Gottgefällige Rassendiskriminierung

Der Kommentar der "Civiltà Cattolica" zum Rassenmanifest lässt Pius' XI. Stellungnahmen als "Irrlehre" erscheinen:

«Wem die Thesen des deutschen Rassismus nicht fremd sind, dem werden die beträchtlichen Unterschiede derselben gegenüber jenen von diesen italienischen faschistischen Gelehrten vorgeschlagenen gewiss auffallen. Dies bestätigt wohl, dass der italienische Faschismus sich nicht mit dem deutschen Nazismus oder Rassismus, welcher seinem Wesen nach und explizit materialistisch und antichristlich ist, vermischen will.»

Das soll nun folgendes bedeuten:

1. Die italienischen Rassengesetze sind im Gegensatz zu den deutschen nicht unchristlich, also darf man sie wohl bedenkenlos einführen

2. Sie stellen somit auch keine Apostasie dar (wie sie Pius XI. irrtümlicherweise nennt)

3. Die italienischen Faschisten kopieren keineswegs Deutschland (wie dies Pius XI. "fälschlicherweise unterstellt")

4. Im "Rassenmanifest" wird klar festgehalten, die "Rassenfrage" müsse von einem "rein biologischen" Standpunkt her angegangen werden, nicht von einem philosophischen oder religiösen.
Damit zerstört die "Civiltà Cattolica" die einzige (ohnehin schon lächerliche) heutigen Apologeten noch verbleibende Ausrede, die Kirche habe den rassistischen Antisemitismus immer bekämpft.
(Es ist ohnehin schon aus älteren Hetzschriften der "Civiltà Cattolica" zu entnehmen, dass sie sehr wohl den Begriff "Rasse" zur Ausgrenzung und Dämonisierung gebrauchte:
''Oh how wrong and deluded are those who think Judaism is just a religion, like Catholicism, Paganism, Protestantism, and not in fact a race, a people, and a nation! ... For the Jews are not only Jews because of their religion ... they are Jews also and especially because of their race.'' (um 1880)
(aus einer Rezension zu David Kertzers Buch "The Popes against the Jews").

Mussolini gegen Pius XI.

Auch von der Rede, die Mussolini im September 1938 in Triest hielt, wird vielfach angenommen, seine Schlusssätze seien gegen Pius XI. gerichtet.

Nachdem er sich über die Notwendigkeit der "Massnahmen zur Reinhaltung der Rasse" ausgelassen hat, beendet er seine Rede mit:

« ... eine Politik der Separation ..., ausgenommen der Fall, die Semiten jenseits wie diesseits der Alpen, und vor allem deren improvisierte und unerwartete Freunde, die sie von allzuvielen Kanzeln herab verteidigen - ausser diese würden uns zwingen, unseren Kurs radikal ändern zu müssen.»

Hier in diesem Video ist es im Originalton zu hören, ganz am Ende:
« ... nei loro confronti una politica di separazione - a meno che i Semiti d'oltrefrontiera e quelli dell'interno, e soprattutto i loro improvvisati e inattesi amici che da troppe cattedre li difendono, non ci costringano a mutare radicalmente cammino.»

Das "von allzuvielen Kanzeln" darf man gewiss nicht mit der Kirche als Ganzes gleichsetzen; gewiss auch war Pius XI. nicht der einzige, ich weiss nicht, wieviele Kirchenleute es gewesen sein mögen, die für die Juden eintraten.*
Gleichermassen gewiss ist jedoch, dass die Mehrheit (?), zumindest aber viele der einflussreichsten Prälaten in der römischen Kurie nicht dazu zu zählen sind - diese waren zu beschäftigt damit, die Rassengesetze zu verteidigen.

Auch dass dies sonst ganz und gar nicht der Stil der Kirche war, beweist Mussolinis "deren improvisierte und unerwarteten Freunde"; man war sich eine Verteidigung der Juden von Seiten der Kirche - weder von den Kanzeln noch aus der katholischen Presse - ganz und gar nicht gewohnt, ganz im Gegenteil.

Was mich aber fast am meisten getroffen hat, sind seine letzten Worte: "ausser diese würden uns zwingen, unseren Kurs radikal zu ändern." Ist es damnach - wie ich mir sicher bin - wirklich möglich, dass, hätte sich die Kirche geschlossen gegen die Judenverfolgungen gestellt, nicht nur Mussolini, sondern auch sein Freund jenseits der Alpen seinen Kurs radikal hätte ändern müssen?

Nachtrag Mai 2010: In der Tat hielten in jenen Tagen fast alle italienischen Bischöfe Homelien gegen das Regime und gegen den Rassismus. Der Bischof von Triest, Antonio Santin, verwehrte gar Mussolini den Zutritt zur Kathedrale, falls er seine Invektiven gegen den Papst nicht widerrufe. (Santin war auch der einzige italienische Bischof, der persönlich bei Mussolini in Rom zugunsten der Juden vorsprach, womit er nebenbei den vollen Lob Pius' XI. erntete.)
aus: Wikipedia-Artikel über Pius XI. (ital.)

* Einer von diesen ist Kardinal Ildefonso Schuster, der im November 1938 im Dom zu Mailand verkündete: "Der Rassismus stellt eine nicht geringere internationale Gefahr dar als der Bolschewismus". Der damalige Abt Schuster war auch jener, der 1928 dem Antrag der "Amici Israel" zustimmte, das "perfidis" in der Karfreitagfürbitte zu streichen - und er wurde bald darauf von Pius XI. erst zum Erzbischof und dann zum Kardinal ernannt.

Etwas über Mussolini sagt uns auch dieser gegen Pius XI. gerichtete Affront (Pius XI. bemerkte ja, ob es denn nötig sei, Deutschland nachzuahmen) - und Mussolini darauf:
"Jene, die uns glauben machen wollen, wir seien Imitationen oder, schlimmer noch, Einredungen gefolgt, sind erbärmliche Idioten."

("Coloro i quali fanno credere che noi abbiamo obbedito a imitazioni, o peggio a suggestioni, sono dei poveri deficienti.")
"Poveri deficienti" ist etwas schwierig zu übersetzen, es tönt aber keinen Jota weniger beleidigend als eben "erbärmliche Idioten";
"Schwachsinnige" vielleicht, aber "deficiente" ist sogar fast noch ein klein wenig beleidigender.
Pius XI. habe darauf nichts dergleichen getan.

Über den "Krieg", der offenbar zwischen Pius XI. und Mussolini mehr oder weniger offen ausgetragen wurde, weiss ich noch zu wenig - werde es nachtragen, sobald ich auf etwas Interessantes stossen sollte.

Pius XI.: "Ich schäme mich"


Pius XI. am 28. Oktober 1938:

«Ich aber schäme mich - ich schäme mich, Italiener zu sein. Und Sie, Padre, sagen Sie das nur zu Mussolini! Ich schäme mich, nicht als Papst, als Italiener schäme ich mich! Das italienische Volk ist zu einer Herde verdummter Schafe verkommen. Ich werde reden, ich werde keine Angst haben. Das Konkordat [zwischen Italien und dem Vatikan] liegt mir am Herzen, aber mehr noch liegt mir das Gewissen am Herzen.»

Aus einer von Domenico Tardini (Mitarbeiter im Staatssekretariat) aufgezeichneten Audienz vom 28. Oktober 1938.

Finde ich so schön, ... und vielsagend, dass ich es nicht weiter kommentieren möchte.

(Nur vielleicht zur "Herde verdummter Schafe": ich bin ja selber ursprünglich Italienerin und in mancherlei Hinsicht stolz darauf, aber wo Pius XI. recht hat, da hat er recht.)

Quelle: Emma Fattorini "Pio XI, Hitler e Mussolini" (2007); Übersetzung von mir.

Der nie verschickte Brief

Am 10. Juni 2009 erschien in der italienischen Tageszeitung «Corriere della Sera» ein recht kurzer Artikel von Dino Messina, kurz, aber er hat es in sich:

«Heute publizieren die kulturellen Seiten von "Avvenire" einen langen Bericht von Antonio Airò über die vom Ambrosianeum in Mailand organisierte Tagung über Papst Pius XI.
Airòs Artikel beginnt mit der Meldung über die Auffindung eines Dokumentes in den Archiven der Stiftung für religiöse Studien in Bologna, in welchem die entschiedene Ablehnung der Rassengesetze zum Ausdruck gebracht wird.
"Das entschiedene 'Nein' zu den von Mussolini gewollten Rassegesetzen - schreibt Airò - wurde in einem Brief geäussert, den Kardinal Pacelli, der künftige Pius XII., im Sommer 1938 im Namen des Papstes geschrieben hatte, um ihn persönlich dem Duce [Mussolini] auszuhändigen." Der Brief wurde nie abgeschickt.
Diese lapidare Notiz, über die wir Genaueres erfahren möchten, lässt einen Artikel wieder aktuell werden, in welchem ich am 19. September letzten Jahres den Kontrast zwischen Pius XI. und dem künftigen Pius XII. darlegte. Ich veröffentliche ihn hier bei dieser Gelegenheit erneut:»


Dieser hat es nicht weniger in sich: siehe "Wie Pacelli Pius XI. zensurierte"

Zuvor aber noch eine Bemerkung zu obigem:
"Avvenire" ist eine (sehr) katholische Tageszeitung, und wenn sie so etwas bringt, muss es wohl wahr sein; da nun mal das Dokument wieder aufgefunden und von einer unabhängigen Historikerin an der Tagung vorgestellt wurde, kann man es schlecht wieder in den Archiven verschwinden lassen.

Mag sein, dass "Avvenire" - sich seiner Brisanz bewusst - es bewusst an den Anfang stellte, um ihn unverdächtig erscheinen zu lassen, in der Hoffnung also, die Leser würden nur das "entschiedene Nein" zu den Rassengesetzen (von Seiten "der Kirche" natürlich; ja den Brief hat sogar Pacelli geschrieben! ...) lesen und dabei das in "Avvenire" in einem Nebensatz bemerkte: "Der Brief, der nie abgeschickt wurde, ..." so quasi überlesen - jedenfalls niemals den "völlig absurden" Schluss daraus ziehen, Hochwürden Pacelli selber könnte es gewesen sein, der den Brief zurückhielt.

Hat denn Dino Messina vom "Corriere della Sera" das je gesagt? Nein, es fällt ihm bei dieser Gelegenheit nur jener Artikel wieder ein, in welchem er "den Kontrast zwischen Pius XI. und dem künftigen Pius XII." darlegte ... es liegt ihm wie mir also fern, Pius XII. anschwärzen zu wollen, das tun die Dokumente schon selber.
Und nicht nur die beiden hier vorgestellten, so dass es bei weitem keine "wilden Spekulationen" sind, sondern die wahrscheinlichste Schlussfolgerung.

Wie Pacelli Pius XI. zensurierte

Im zweiten Artikel von Dino Messina (chronologisch der erste vom 19. September 2008, auch im «Corriere della Sera») finden wir einen weiteren Beleg, wie Pius XI. von Pacelli (dem künftigen Pius XII.) hintergangen wurde:

Ab September bis November 1938 wurden in Italien etappenweise Gesetze eingeführt, die die Juden aus dem gesellschaftlichen Leben ausschlossen. Ich bin darüber selber eher oberflächlich informiert (was ich in Bälde zu ändern gedenke), aber für das Verständnis des Artikels ist dies auch nicht unbedingt vonnöten.

Jedenfalls sollten am 17. November der König Vittorio Emanuele III. und Mussolini den definitiven Gesetzeskorps unterzeichnen, was dann auch geschah. Pius XI. aber protestierte in zwei Schreiben, die er Anfang November an Mussolini und den König sandte, besonders im Hinblick auf die Mischehen, da die Gesetze das Konkordat zwischen Italien und dem Heiligen Stuhl (die sogenannten "Patti lateranesi" von 1929) verletzten.

Der König antwortete ihm; den Inhalt dieses Briefes habe ich nicht gefunden, es muss sich aber um eine ermutigende Antwort gehandelt haben, wie das weitere nahelegt. Mussolini hingegen würdigte ihn keiner Antwort.

Von neuer Hoffnung beflügelt, gab Pius XI. Anweisungen, sein Schreiben und die Antwort des Königs im "Osservatore Romano" zu veröffentlichen.

Seine Verblüffung war daher nicht gering, als er tags darauf in der Zeitung nur eine verwässerte Synthese ("sintesi ammorbidita") seiner Stellungnahmen abgedruckt findet, ohne Erwähnung der Antwort des Königs.

Was nun folgt erfahren wir aus einer bisher unveröffentlichten internen, von Domenico Tardini verfassten Note, die erst kürzlich ihren Weg aus den Vatikanischen Archiven ans Tageslicht fand. (Domenico Tardini war Mitarbeiter im Staatssekretariat, das von Pacelli geleitet wurde.)

Die Szene spielt sich am Abend des 15. November 1938 im Vatikan ab.

Pacelli, schreibt Tardini, hatte zuvor den Papst daran erinnert, es sei nicht üblich, den vollen Text diplomatischer Dokumente zu veröffentlichen. Pius XI. habe bejaht, und also verfuhr man.

Bedauerlicherweise aber habe der Papst seine Zusage wohl vergessen; daher sein Erstaunen und sein grosses Bedauern, als er sah, dass der im "Osservatore Romano" abgedruckte Text nicht seiner Stellungnahme entsprach; ganz besonders habe es ihn geschmerzt, die Antwort des Königs nicht vorzufinden.

«Der Hl. Vater ist nicht zu beruhigen. Er meint, der Artikel sei ein langer Monolog. Darin steht, man könne vielleicht auf eine zufriedenstellende Übereinkunft hoffen: "Aber wer gibt Ihnen diese Hoffnung? Ihre eigenen Erwägungen! Also ist es ein Monolog! Es ist jedoch die Antwort des Königs, welche uns diese Hoffnungen gibt."»

Einige Tage später, nachdem er sich von einer krankheitsbedingten Krise erholt hatte  -  fährt Tardini fort -
«fragte der Papst: "Wer hat den Artikel geschrieben?" "Ich, Eure Heiligkeit", antwortete ich sogleich. Und der Hl. Vater [ironisch]: "Meine Glückwünsche!". Aber der "Eminentissimo" [Pacelli] beeilte sich: "Eure Heiligkeit, ich habe den Artikel durchgesehen und übernehme die volle Verantwortung."

Es war der 28. November. Nachdem sich Monsignor Tardini das ärztliche Gutachten über den Papst notiert hatte ("er könnte von einem Tag auf den anderen sterben"), fuhr er fort:

«Durch die solchermassen prompte und grossherzige Intervention des "Eminentissimo" [Pacelli] ist der Heilige Vater nun weniger aufgebracht, und dann beginnt er, mir ein Kommuniqué zu diktieren, der am selben Abend noch im "Osservatore Romano" veröffentlicht werden sollte. (...) Eure Heiligkeit zitierte darin wörtlich die Antwort des Königs. Dem "Eminentissimo" gelang es, die Veröffentlichung zu verhindern.»

"Diese Episode zeigt uns einmal mehr, sollte es noch nötig gewesen sein, die unterschiedliche Haltung, die die beiden Pontifex dem Faschismus und seiner rassistischen Politik gegenüber einnahmen", bemerkt Dino Messina, und dem schliesse ich mich voll und ganz an.

Der König und sein "unvergleichlicher" Minister (Mussolini)

Eine höchst ironische Titulierung

In seiner Weihnachtsansprache vom 24. Dezember 1938 vor den Kardinälen bedankt sich Pius XI. kurz und erwidert die erhaltenen Glückwünsche, um dann sogleich auf ein weiteres anstehendes Ereignis zu sprechen zu kommen, das bevorstehende zehnjährige Jubiläum des Konkordatsabschlusses zwischen Italien und dem Vatikan, das auf den 11. Februar 1939 fallen sollte.

Dabei dankt er unter anderem den "hohen Persönlichkeiten, dem noblen König und seinem unvergleichlichen Minister", denen es zu verdanken sei, dass das Konkordat zu einem glücklichen Abschluss habe gelangen können (damals, wenn man die Rede genau liest).

Dass er hier Mussolini "den unvergleichlichen Minister" nennt, bringt ihm wiederum die Kritik fast all jener ein, die heute seine Ansprache lesen; diese Reverenz an Mussolini mindere in hohem Masse die folgende Kritik an das Regime. (Überhaupt zeige dies einmal mehr, wie ernst es Pius XI. mit seinen lauwarmen Protesten gegen die Rassendiskriminierungen gewesen sei.)

Aber in Wirklichkeit war die Titulierung "unvergleichlicher Minister" höchst ironisch gemeint. Alle hätten gleich die Ironie in dieser Anrede vermutet, auch Mussolini selbst sei höchst aufgebracht und zutiefst beleidigt gewesen, der Papst mache sich öffentlich lustig über ihn. Sein enger Mitarbeiter erzählt, wie er ausser sich vor Wut gewesen sei und welche Mühe es ihn gekostet habe, ihn zu beruhigen. Er lässt sogar eine Protestnote an den Heiligen Stuhl überbringen: "In gewissen katholischen Kreisen macht man sich lustig über das mich betreffende Papstwort. Ich beklage den vom Papst geäusserten Angriff auf die Partei, der in ganz Europa Anlass zu Spekulationen gibt."

Erst bei Emma Fattorini ("Pio XI, Hitler e Mussolini") habe ich gelesen, wie diese Titulierung gemeint war, und wie sie damals auch verstanden wurde, und als ich darauf die ganze Ansprache Pius XI. las, schien mir auf einmal nicht nur der "unvergleichliche Minister", sondern weite Teile der Rede mit feiner Ironie gespickt.

Es ginge hier zu weit, alle vermuteten Stellen aufzuzählen; nur ein Beispiel: er dankt nicht einfach (von Herzen), sondern "wie es sich gehört"; er erbringt den geschuldeten Dank. Dieses "wie es sich gehört" ("dovuto") kommt an mehreren Stellen in der Rede vor. Und manch andere Redewendungen, die bei genauerem Hinhören recht suspekt klingen. Einfach köstlich, wenn das Thema kein so ernstes wäre.

Weiter wird ihm vorgeworfen, er halte sich so lange nur bei seiner "Azione Cattolica" (einer katholischen Vereinigung) auf. Ja, nach einer Vorbereitung, jetzt kämen die zu beklagenden Punkte, erwähnt er zunächst nur die Angriffe der Faschisten auf "Azione Cattolica"; aber er beendet diesen Abschnitt mit:
"Gestern war es Venedig, Turin und Bergamo; heute ist es Mailand, und gerade in der Person seines erzbischöflichen Kardinals, seiner Reden und Lehren wegen angeklagt, welche exakt seiner pastoralen Pflicht entspechen und die wir nur gutheissen können."
Der Erzbischof von Mailand aber war Ildefonso Schuster, der im November 1938, also kaum einen Monat zuvor von der Kanzel des Mailänder Domes verkündet hatte:
"Der Rassismus stellt keine geringere Gefahr dar als der Bolschewismus."

(Er war auch jener, der 1928, damals noch Abt, dem Antrag der "Amici Israel" gleich zustimmte, das "perfidis" in der Karfreitagsfürbitte zu streichen; und den Pius XI. im Jahre darauf erst zum Erzbischof und bald darauf zum Kardinal ernannte).

Das wissen heutige Leser wohl kaum, woher auch? Aber den damaligen war gewiss bekannt, wer damit gemeint war und hinter welch "ungeheuerlicher" Aussage sich nun der Papst öffentlich stellte.

Wenn wir das zu all seinen weiteren Attacken auf das Regime seit Ankündigung der Rassengesetze hinzuzählen, so sind das keineswegs "lauwarme" Proteste, sondern so lautstark er (fast im Alleingang) eben konnte.

Ich wüsste nur allzugerne, wer erstmals diese ....

Die "unterschlagene Enzyklika"

Enzyklika «Humani Generis Unitas»

Da dies ein längerer Blogeintrag wird, hier vorab eine KURZFASSUNG:

Der Entwurf der im Juni 1938 von Pius XI. dem Jesuiten John LaFarge in Auftrag gegebenen Enzyklika gegen Rassismus und Antisemitismus war im September fertiggestellt und dem Jesuitengeneral Wladimir Ledochowski in Rom übergeben; dieser leitete den Entwurf aber erst Ende Januar an den Papst weiter, wenige Wochen vor dessen Tod am 10. Februar 1939; es ist ungewiss, ob Pius XI. den Entwurf überhaupt jemals gelesen hat, geschweige denn, ob er ihn gesamthaft gutgeheissen hätte.

Die Entzyklika wurde unter seinem Nachfolger Pius XII. nie veröffentlicht, die Öffentlichkeit erfuhr erst 1973 davon, als die englische Fassung des Entwurfes in den USA wiederentdeckt wurde.

Nebst einer Verurteilung der Judenverfolgungen finden sich im Entwurf auch ausgesprochen judenfeindliche Passagen, die aber nicht LaFarge, sondern seinem Jesuitenkollegen Gustav Gundlach zugeschrieben werden, welcher bereits ähnliche Artikel verfasst hatte (z.B. im "Lexikon für Theologie und Kirche" 1930).
Gundlach aber wurde von Ledochowski, selbst Antisemit, zur Mitredaktion herangezogen.

Auch diese Ereignisse um die "unterschlagene Enzyklika" zeigen, welch starke "kircheninterne" Strömungen gegen Pius' XI. Bemühungen am Werk waren.

Die "unterschlagene Enzyklika" (2)

zum Inhalt der Enzyklika «Humani Generis Unitas»

Nur gerade der Anfang des Abschnittes über die Juden (Punkt 131 und 132) entspricht den Verheissungen, eine Enzyklika gegen den Antisemitismus zu werden; dann aber ändert sich die Tonlage auf sehr drastische Weise und wir lesen fast nur noch von der Verblendung, der Habgier, dem gefährlichen Einfluss der Juden für die christichen Seelen und derlei (Wohlbekanntes) mehr.

Es gilt aber fast als gesichert, dass hier nicht LaFarge, sondern eben sein Jesuitenkollege Gustav Gundlach (Bild links) federführend war; das vermutet auch Johannes Schmitt, Autor mehrerer hervorragender Artikel über den kirchlichen Antisemitismus, deren Lektüre ich jedermann höchlichst empfehle (werde noch eine Linkliste zusammenstellen).
Hier der u.a. die "unterschlagene Enzyklika" betreffende Artikel vom Juni 1998, in welchem er zum Vergleich auch aus Gundlachs Lexikonartikel von 1930 zitiert.

Dass Gundlach tatsächlich von Ledochowski (und nicht von Pius XI.) zur Mitredaktion herangezogen wurde, ist spätestens seit der Veröffentlichung eines Briefes von LaFarge vom 28.10.1938 an Pius XI. gesichert (siehe nächster Beitrag).

Die den Antisemitismus betreffenden Textstellen aus dem Entwurf finden sich hier im Internet veröffentlicht (ab Punkt 131).

Auszug aus Punkt 132 "Die gegenwärtige Verfolgung der Juden":

«Ist die Verfolgung einmal in Gang gekommen, dann werden Millionen von Menschen auf dem Boden ihres eigenen Vaterlandes der elementarsten Bürgerrechte und -privilegien beraubt, man verweigert ihnen den Schutz des Gesetzes gegen Gewalt und Diebstahl, Beleidigung und Schmach harren ihrer, […] Sogar jene, die tapfer für das Vaterland gekämpft haben, werden wie Verräter behandelt; die Kinder derer, die auf dem Schlachtfeld gefallen sind, werden aufgrund der alleinigen Tatsache, wer ihre Eltern sind, für außerhalb des Gesetzes stehend erklärt. […] Diese eklatante Verweigerung elementarer Rechte gegenüber den Juden treibt Millionen völlig mittellos über diese Erde, den Unwägbarkeiten des Exils ausgesetzt. Von Land zu Land irrend, sind sie sich selbst und der Menschheit insgesamt eine Last.»

Punkt 133 hingegen beginnt gleich mit "dennoch":

«Und dennoch hat diese ungerechte, erbarmungslose Kampagne gegen die Juden unter dem Deckmäntelchen des Christentums, wenn man so sagen darf, zumindest den einen Vorteil gegenüber dem Rassenkampf, daß sie die wahre Natur, die eigentliche Grundlage der gesellschaftlichen Sonderstellung der Juden gegenüber der übrigen Menschheit in Erinnerung ruft.»

Das ist noch "heilig" verglichem mit dem, was über viele Abschnitte hinweg folgt:

Beginnend mit dem Gottesmordvorwurf (wodurch die Juden den Zorn Gottes auf sich zogen und sich selbst ins Unglück stürzten), über die Verblendung und Verstocktheit der Juden (aufgrund ihrer Habgier), ihre Feindseligkeit dem Christentum gegenüber und somit die spirituellen Gefahren für die christlichen Seelen beim Umgang mit den Juden, sowie die Notwendigkeit der Bekehrung (besonders letztere scheint Gundlach mit höchster Dringlichkeit anzumahnen).

Und sehr bekehrungswillig werden die Juden ja gewiss, wenn sie derlei Ausführungen lesen …

Die "unterschlagene Enzyklika" (3)

zur Entstehung und Verschwinden der Enzyklika
Ende Juni 1938 empfing Pius XI. den amerikanischen Jesuiten John LaFarge, der bereits ein Buch gegen Rassendiskriminierung in den USA verfasst hatte, in Privataudienz in seiner Sommerresidenz in Castelgandolfo und beauftragte ihn, nachdem er ihn zu strengster Geheimhaltung verpflichtet hatte, mit der Ausarbeitung einer Enzyklika gegen Rassismus und Antisemitismus. Dem völlig überraschten LaFarge, der gerade auf Europareise war und sich eher zufällig in Rom aufhielt, war, "als sei ihm der Felsen des heiligen Petrus auf den Kopf gefallen."

Eine erste Frage drängt sich hier schon auf: warum wandte sich Pius XI. (im geheimen) an einen amerikanischen Jesuiten? Wie er auch seine Rede "Spirituell sind wir Semiten" vor belgischen Pilgern hielt, dabei Presseleute ausdrücklich bittend, die Rede mitzustenografieren und zu veröffentlichen? (könnten bei jener Rede seine Tränen auch solche der Erleichterung gewesen sein, dass er endlich Gehör findet und jemand seine Worte nach aussen trägt?)
Klar kann man alles auf die "faschistische Zensur" schieben - ich sehe die massgeblichere Zensur in der römischen Kurie selber.

Nebst Gustav Gundlach arbeitete noch ein dritter Jesuit an dem Entwurf mit, der Franzose Gustave Desbuquois; beide wurden vom Jesuitengeneral Wladimir Ledochowski, einem polnischen Adeligen, zur Mitredaktion herangezogen.
Nach dreimonatiger intensiver Arbeit in Paris war der Entwurf im September fertiggestellt und von LaFarge (im Bild) "den korrekten Dienstweg einhaltend" nicht direkt an Pius XI., sondern persönlich an Ledochowski in Rom ausgehändigt.
(Was LaFarge wohl von den antijüdischen Passagen hielt, und welche Reaktion Pius' XI. er sich darauf erwartete, bleibt wohl offen.)

Und hier begann die Verzögerungs- und Verschleierungstaktik

Aus einem Brief LaFarges an Pius XI. vom 28.10.1938 geht hervor, dass er der Meinung war, Ledochowski habe den Entwurf gleich an den Papst weitergeleitet, er ihn also bereits Besitze des Papstes wähnte.

Nachdem er darin Pius XI. seine Vorgehensweise bei der Ausarbeitung darlegt, dabei auch erwähnend, dass Gundlach von Ledochowski zur Mitarbeit herangezogen wurde, beschliesst er den Brief damit, wie leid es ihm tue, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, das Dokument dem Papst persönlich auszuhändigen:

«Dieser Umstand hat mich tief betrübt, war es doch mein lebhafter Wunsch, das Dokument zu Handen Eurer Heiligkeit zu übergeben. Unser "reverendissimo" General hatte mir zugesichert, den Text sogleich Eurer Heiligkeit weiterzuleiten; der Gedanke tröstet mich somit, dass dieser bereits an Sie gelangt sei, auch wenn ich auf die Genugtuung verzichten musste, ihn persönlich auszuhändigen.»

(der Brief wurde erstmals am 1.4.2008 von Dino Messina im "Corriere della Sera" veröffentlicht)

Am 3.1.1939 antwortete dann Ledochowski auf eine Nachfrage LaFarges, der Papst sei noch nicht im Besitz des Entwurfes, und überhaupt sei das Ganze "im Moment noch in der Schwebe".

Der zweite Brief, den Dino Messina im "Corriere della Sera" vom 1.4.2008 erstmals veröffentlicht, ist noch weitaus interessanter; es handelt sich um das Begleitschreiben Ledochowskis, mit dem dieser am 21. Januar 1939 - also ganze vier Monate nach dessen Erhalt - den Enzyklikaentwurf an Pius XI. weiterleitet:

(Auch der Zeitpunkt ist "interessant": am 11. Februar sollten die Feierlichkeiten zum 10-jährigen Jubiläum des Konkordats zwischen Italien und dem Heiligen Stuhl stattfinden, weshalb Pius XI. nun gewiss vollauf mit diesem bevorstehenden Ereignis beschäftigt war; auch war Pius XI. bereits über 80 Jahre alt und schwer krank, dadurch auch zeitweise handlungsunfähig - es würde ihm zur Zeit also gewiss keine Zeit für die Enzyklika bleiben; ausserdem hatte sein Arzt ja schon im November angekündigt, er könnte "von einem Tag auf den anderen" sterben).

Brief Ledochowskis vom 21. Januar 1938 an Pius XI.

"Beatissimo Padre" ("Allerseligster Vater"),
Ich erlaube mir, Eurer Heiligkeit unverzüglich [!] den Entwurf Pater LaFarges über den Nationalismus sowie verschiedene von demselben angefügte Bemerkungen zu übermitteln.
Dem Pater Rosa und mir schien es, dass der Entwurf, so wie er ist, nicht den Wünschen Eurer Heiligkeit enspreche. Pater Rosa begann, einen anderen Entwurf auszuarbeiten, jedoch fehlte ihm die Kraft für eine solche Arbeit.
Eure Heiligkeit weiss, dass wir jederzeit zu seiner Verfügung stehen, hocherfreut, wenn wir Eurer Heiligkeit einen kleinen Dienst erweisen können.
Wenn Eure Heiligkeit wünschen sollte, dass man eine solche Arbeit ausführe, wäre es vielleicht angebracht, die Methode anzuwenden, die sich bei anderen Anlässen bewährt hat, nämlich: erst einen kurzen Abriss gemäss den Anordnungen Eurer Heiligkeit, diesen dann Eurer Heiligkeit unterbreiten, um erst nach dessen Anmerkungen den ersten Entwurf auszuarbeiten; diesen dann wiederum Seiner Heiligkeit unterbreiten, um darauf den endgültigen Entwurf zu verfassen.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich Eure Heiligkeit darüber in Kenntnis setzen, dass Pater Lazzarini sich heute abend oder morgen einer kleinen aber dringenden Operation unterziehen muss. Für ihn und für uns alle erflehe ich, zu Füssen Eurer Heiligkeit liegend, demütigst den Apostolischen Segen.
Eurer Heiligkeit letzter Sohn ["letzter" wohl im Sinne von demütigster - od."kläglichster"?)
W. Ledochowski D.J.

Ledochowski wollte also den Entwurf von Enrico Rosa, Autor mehrerer äusserst judenfeindlicher Artikel in der "Civiltà Cattolica" (siehe z.B. hier) überarbeiten bzw. neu ausarbeiten lassen; waren ihm die Passagen Gundlachs etwa zu gemässigt?

Eher handelte es sich wohl um eine reine Verzögerungstaktik:
Denn: "Auf jeden Fall hätten die katholischen Gläubigen den Lehrgehalt der Enzyklika übernehmen müssen - was in der Praxis Opposition gegen das Hitler-Regime bedeutet hätte."
Und: "Das hätte Hitlers Armee, der Millionen Katholiken angehörten, nicht ausgehalten."
(aus zwei "Spiegel"-Artikeln von 1997 und 2001)

(Ledochowski habe den Bolschewismus vor den Türen seiner Heimat mehr gefürchtet als die "braune Pest", heisst es meist kirlicherseit, was der halben Wahrheit entsprechen dürfte; dass er auch Antisemit war und dies seine "Zurückhaltung" mindestens ebenso beeinflusste, wird dabei ausgeklammert.)

Die Enzyklika wird "schubladisiert"

Nach Pius' XI. Tod sei der Enzyklikaentwurf "auffallend schnell verschwunden", erinnert sich ein zeitgenössischer Jesuit, und: der neue Fischer (Pius XII.) und ARPN (Ledochowski) seien sich offenbar schnell einig geworden, das Projekt "endgültig zu begraben".

Am 16. März teilte der amerik. Assistent Ledochowskis, Zaccheus Maher, La Farge mit, die Enzyklika sei Pius XII. mit dem übrigen Nachlass des verstorbenen Papstes übergeben worden; nur habe der neue Papst noch keine Zeit zur Lektüre gefunden. (Hielt dieser es doch keineswegs für "das zur Zeit brennendste Thema", wie Pius XI. es genannt hatte.)

Am 10. April erfuhr dann LaFarge, wiederum durch Maher, dass es keine Enzyklika geben werde.
Es wurde LaFarge zwar freigestellt, den Text als private Arbeit zu veröffentlichen, doch die strikte Bedingung Ledochowskis:
Die Publikation dürfe "nicht die geringste Andeutung enthalten, dass das Werk in irgendeiner Beziehung zu irgendeinem Auftrag Seiner verstorbenen Heiligkeit stehe."

LaFarge hat dann den Entwurf nie veröffentlicht. Hatte er "etwas Mühe" mit den antijüdischen Passagen Gundlachs, von denen er zudem wusste, dass Pius XI. diese wohl (wie ich meine) niemals gutgeheissen hätte? Warum hat er bis zu seinem Tod 1963 darüber geschwiegen?

So erfuhr denn die Öffentlichkeit jahrzehntelang nicht einmal von der Existenz der geplanten Enzyklika.

Veröffentlichungen ...

1973 wurde die englische Fassung des Entwurfs von einem Ex-Jesuiten, Thomas Breslin, in einem amerik. Jesuitenseminar gefunden, woraufhin das US-Magazin "National Catholic Reporter" Auszüge daraus veröffentlichte.

1975 publizierte der Theologe Johannes Schwarte die deutsche Fassung, die im Kleiderschrank des Spitals, in welchem Gundlach 1963 gestorben war, gefunden wurde, im Rahmen seiner Doktorarbeit. Auch er war der Überzeugung, dass Gundlach die "entscheidende Verfasserarbeit" geleistet habe.

1989 bereits (!) gab auch der Vatikan öffentlich zu, Pius XI. habe eine Enzyklika über die "Einheit des Menschengeschlechts" vorbereiten lassen. Die Veröffentlichung des Entwurfs verweigert er aber bis zum heutigen Tag.

1995 dann folgte die bekannteste Veröffentlichung über die "Schubladen-Enzyklika", das Buch der beiden Belgier Georges Passelecq, Benediktinerpater, und Bernard Suchecky, jüdischer Historiker: "L'encyclique cachée de Pie XI. La découverte".
Worauf 1997 die deutsche Übersetzung folgte:
"Die Unterschlagene Enzyklika. Der Vatikan und die Judenverfolgung"

... Jahrzehnte zu spät

Wäre es aber nach den Wünschen Pius XI. gegangen und die Enzyklika "ungehindert" Ende 1938 veröffentlicht worden, so denke auch ich:
"das hätte Hitlers Armee, der Millionen Katholiken angehörten, nicht ausgehalten".

Pacelli lässt alles Material zu Pius' XI. Rede vernichten

Die "unterschlagene Enzyklika" ist recht bekannt und wird öfter erwähnt; viel weniger bekannt, da (fast) totgeschwiegen, ist hingegen jene Rede, die Pius XI. für das zehnjährige Jubiläum des Konkordats zwischen Italien und dem Vatikan (die sog. "Patti lateranesi") vorbereitet hatte. Die Feierlichkeiten sollten am 11. Februar 1939 stattfinden, doch stattdessen wurden es Tage der Trauer: Pius XI. war in der Nacht vom 9. auf den 10. Februar an einem Herzschlag gestorben.

Den Inhalt der Rede hatte Pius XI. vor allen geheim gehalten, auch wenn er sie öfter erwähnte:
Wie es üblich geworden sei, habe Pius XI. den Inhalt der Rede verheimlicht. Niemand bekam sie zu sehen, nicht einmal Pacelli, notierte sich Domenico Tardini, Mitarbeiter im Staatssekretariat, das von Pacelli, dem künftigen Pius XII., geleitet wurde. Erst am 8. Februar sei Pacelli die bereits fertig getippte Rede zur Lektüre in den päpstlichen Privatgemächern überreicht worden; Pacelli habe nur sehr wenige eher formale Änderungen daran vorgenommen, und gleich darauf sei sie in die Druckerei gebracht worden. Nicht einmal den oft harschen Ton habe Pacelli abzumildern versucht.

Die Rede lag dem Pontifex sehr am Herzen, er hatte grosse Erwartungen in sie gelegt.

Er attackiert darin die faschistischen Methoden und warnt vor Bespitzelung durch das Regime, selbst am Telefon dürfe man sich nicht trauen, frei zu sprechen. Die Presse würde in Bezug auf die Kirche lügen, verfälschen und selbst erfinden, ja sogar die Judenverfolgungen in Deutschland würden hartnäckig dementiert; dies werde vom ungerechtfertigten Vorwurf an die Kirche begleitet, sich in die Politik einzumischen.

(Auch einen Satz finde ich "merkwürdig" für eine Papstrede:
"... vor allem die Ehre eines Volkes, das sich seiner Würde und seiner menschlichen und christlichen Verantwortung bewusst ist, ..." - Pius XI. wird in seiner Wortwahl wohl sehr sorgfältig vorgegangen sein, und dass hier "menschlich" vor "christlich" kommt, wird nicht von ungefähr sein.)

Doch seine Rede sollte nie jemand zu Ohren bekommen. Pacelli erwähnt sie mit keinem Ton vor den bereits in Rom eingetroffenen Bischöfen. Nicht nur: Er gab gleich nach dem Ableben Pius' XI. Anweisungen, alles auffindbare Material die Rede betreffend zu vernichten.
Darüber wurden erst kürzlich (vor ein paar Jahren bei der Teilöffnung der vatikanischen Geheimarchive) die detaillierten, wiederum von Domenico Tardini schriftlich festgehaltenen Instruktionen Pacellis aufgefunden:
Pius' XI. Handschrift sowie alle getippten Kopien, selbst die bereits angefertigten Druckmatrizen der an die Bischöfe zu verteilenden Rede sollen vernichtet werden, es solle "keine Zeile" davon übrigbleiben.

Emma Fattorini berichtet nach der Wiederauffindung als erste darüber in ihrem Buch "Pio XI, Hitler e Mussolini".

Ein weiterer Beweis, wie Pius XI. niemandem mehr traute, ist die Antwort (vom 9. Februar 1939) des italienischen Nuntius auf die Frage eines faschistischen Diplomaten, was der Papst zu tun gedenke: "Ich weiss es nicht, der Heilige Vater spricht mit niemandem über seine Vorhaben; aber gewiss wird er etwas Grosses vorbereiten."

Nebst der Rede war für den darauffolgenden Tag eine persönliche Begegnung Pius' XI. mit den anwesenden Bischöfen geplant, um deren Meinung zur momentanen Lage aus erster Hand zu erfahren. Wahrscheinlich wurde auch dies von manchen Kreisen als nicht weniger "gefährlich" eingestuft als die Rede selbst ...

Mindestens eine Kopie der Rede wird dennoch überlebt haben, wie es dazu kam, erfahren wir bei Emma Fattorini nicht.

Erst 20 Jahre später zitierte Papst Johann XXIII. Auszüge daraus anlässlich des zwanzigsten Todestages Pius' XI.

Gegen die Nazis ist nicht gleich gegen den Antisemitismus

.
Weshalb ich die sonst so oft zitierte Enzyklika "Mit brennender Sorge" vom März 1937 hier nicht einmal erwähne …

Anstelle eines eigenen Beitrages will ich zu diesem Thema auf einen ausgezeichneten Artikel von Martin Rhonheimer, erschienen in der "Tagespost" vom 28. Juni 2003, hinweisen:
"Katholischer Antirassismus war kirchliche Selbstbehauptung, aber keine Verteidigung der Juden"

(hier auch in englischer Übersetzung)

"Nivellierungstendenzen"

Polen und Mailand

Jugend in Mailand

Als junger Priester wurde Achille Ratti 1888 ins Kollegium der angesehenen Bibliothek
"Ambrosiana" in Mailand aufgenommen, deren Präfekt er 1907 wurde; hier widmete er sich umfangreichen Studien, lernte manche, auch ausländische, Intellektuelle und Politiker kennen und unterhielt rege gesellschaftliche Kontakte vor allem zur Mailänder Oberschicht; ganz im Gegensatz zu seiner Zeit in Rom, wohin er 1911 vom Papst berufen wurde, um erst Vize- und 1914 Präfekt der Vatikanischen Bibliothek zu werden; hier lebte er dann eher zurückgezogen. Ratti liebte Bücher; wenn ihm ein interessantes unterkam, war er glücklich.

In Mailand gab er auch Hebräischkurse im dortigen Priesterseminar und machte so die Bekanntschaft mit dem Mailänder Oberrabbiner Alessandro da Fano, zu dem er seine Schüler in die Synagoge begleitete.

Es sei eine Beziehung, über die man wenig wisse, schreibt Emma Fattorini, es sei auch nie darüber recherchiert worden. Einige Hinweise finde man in der Sonderausgabe der Wochenzeitschrift "Israel", die dem Oberrabbiner anlässlich seines Todes gewidmet war (wovon ich im Internet keinen Hinweis gefunden habe). Aber auch noch nachdem er Papst geworden war, habe Pius XI. den Rabbiner da Fano in mehreren Audienzen empfangen.

So zum Beispiel im Mai 1933 nach der Machtergreifung Hitlers. Die Londoner "Jewish Chronicle" berichtete darüber am 12. Mai 1933 unter dem Titel "The Pope's Desire to Help": «The pope received in audience a delegation from the Agudath Israel, consisting of Consul General Guggenheim of Basle and Rabbi Alessandro da Fano of Milan, the President of the Board of Rabbis in Italy, and had a long private talk with them about the situation of the Jews in Germany. It is understood that the pope was extremely concerned about the sufferings imposed on the Jews and expressed his sympathy with them and his desire to help. Rabbi da Fano, who is eighty-six years of age, is a personal friend of the pope, and was his teacher of Hebrew when the pope was Director of the Catholic Ambrosian Library in Milan.»

Auch habe Pius XI. anlässlich des Antwortschreibens an den Oberrabbiner von Ägypten im Zusammenhang mit der Verabschiedung der Rassengesetze 1938 ausgerufen: "Wenn er wüsste, dass auch wir Schüler des Oberrabbiners von Mailand waren!"

Aber was sagt dieses wenige schon aus? Wird dieser Freundschaft (vor allem da man so wenig darüber weiss) nicht zuviel Gewicht beigemessen? Man kann gerne darauf hinweisen, aber irgendwelche Schlüsse betreffend seine Einstellung zu den Juden daraus abzuleiten (falls dies überhaupt versucht wird), scheint mir doch zu voreilig.

Die "kleine" Thérèse: Der "Stern seines Pontifikats"

Pius XI. hegte eine tiefe Verehrung für Thérèse von Lisieux, den "Stern seines Pontifikats", wie er sie nannte.
Mit 15 Jahren in den Karmelitenorden eingetreten, starb sie 1897 erst 24-jährig an Tuberkulose. 1925 sprach Pius XI. sie heilig.
Er bewunderte ihre gelebte Spiritualität "in den kleinen Dingen", die sie gerade so gross mache.
"Nach meinem Tod werde ich Rosen regnen lassen", soll sie ausgerufen haben.


Als Nuntius in Polen

Eine (sehr) schockierende Äusserung Achille Rattis stammt aus der Zeit, als er sich als Nuntius in Polen aufhielt; da war er immerhin bereits etwa 60 Jahre alt, man kann sie also schlecht als unreflektierte Haltung abtun:

«Die in den polnischen Städten sehr zahlreichen Juden stellten für Ratti das dubioseste/ zweifelhafteste ("malfido") Element im polnischen Leben dar, ein gefährlicher antinationaler Faktor, eine Volksmasse, die das öffentliche Leben verseuche. »

(aus "Pio XI, Hitler e Mussolini" von Emma Fattorini; sie zitiert hier ihrerseits aus einem anderen Buch, ohne genauere Angabe, in welchem Zusammenhang und in welcher Form diese Äusserungen Rattis erfolgten.)

Der sehr ausgeprägte Katholizismus der Polen faszinierte Pius XI. anfangs, er war von diesem tief gläubigen Volk sehr angetan und hätte wohl am liebsten ein rein katholisches, "judenfreies" Polen verwirklicht gesehen. Er ward aber bald enttäuscht: es sei ein höchst schwärmerischer Katholizismus, der mit wahrer Spiritualität wenig zu tun habe, und der oft nur zu rein nationalistischen Zwecken missbraucht würde.

Wahrscheinlich erlebte er hier seine erste Enttäuschung dem Nationalismus gegenüber.

(Da Polen lange Jahrhunderte hindurch geteilt, also kein autonomer Staat war, identifizierten sich die Polen - vielleicht heute noch? - in erster Linie über den Katholizismus, habe ich irgendwo einmal gelesen.)

Waren es vielleicht diese Erfahrungen in Polen, die ihn prägten und bei ihm eine bleibende Skepsis dem Nationalismus gegenüber hinterliessen, die ihn schliesslich auch zum leidenschaftlichen, zumindest überzeugten Gegner antijüdischer Diskriminierungen machten?

Ich hatte bereits zuvor gelesen, Pius XI. habe sich in seinen Polenjahren antisemitisch geäussert; aber erst als ich dann bei Emma Fattorini auch las, was genau er herausgelassen hatte, da muss ich zugeben, kam ich schon etwas ins Schwanken was mein …, auch wenn ich ihn nie als ausgesprochenen Judenfreund angesehen hatte (wie es zum Beispiel Johannes XXIII. war).

Etwas erschreckend wäre das ja schon, wenn er nur aus eher zufälligen Lebensumständen zum entschiedenen Gegner des Antisemitismus geworden wäre.
(Andererseits ist ja noch nie jemand als Antisemit auf die Welt gekommen, selbst Hitler nicht, sondern wurde es erst durch mehr oder minder unbewusste Prägungen.)

Man könnte hier einwenden, seine wahren Gefühle den Juden gegenüber seien gar nicht so wichtig, massgeblich sei, was er getan habe. Zum Teil mag das stimmen, und ich rechne ihm seinen Einsatz so oder so hoch an; andererseits aber sind es wohl in erster Linie unsere Gefühle, die unser Handeln lenken, als so zweitrangig kann man diese also nicht abtun.

"On finit toujours par aimer ceux auxquels on a essayé de faire du bien."
[finde leider nicht mehr von wem dieses Zitat stammt]

Wenn mir eine (einzige) Spekulation erlaubt ist, wobei mir bewusst ist, dass ich damit völlig daneben liegen kann und sie überdies meinem Wunschdenken entspringt:
Mag es sein, dass er in seiner Jugend ein eher unreflektiertes Verhältnis zum Judentum und den Juden hatte, sich dann in Polen - vom Enthusiasmus der katholischen Nationalisten angesteckt - radikalisierte, um dann mit einsetzender Ernüchterung auch seine Gefühle den Juden gegenüber wieder zu mässigen? Und wer weiss: man … ja bekanntlich immer, jene zu lieben, für die man Gutes tut … [Spekulation Ende].

"Amici Israel" und die Verurteilung des Antisemitismus 1928

Zur Rechtfertigung der Haltung der katholischen Kirche zur Judenverfolgung in der NS-Zeit wird oft angeführt, die Kirche habe bereits 1928 eindeutig und unmissverständlich den Antisemitismus verurteilt.

Abgesehen davon, dass diese einmalige Verurteilung von 1928 ! eher ein Armutszeugnis denn eine Rechtfertigung abgibt: Im Kontext betrachtet, in der sie entstanden ist, sagt sie wenig bis gar nichts zur "Haltung der Kirche" aus (wenngleich sie ihrer Wirkung nach sicherlich sehr begrüssenswert ist).

Die Verurteilung war nämlich in einem Dekret eingebettet, das die Priestervereinigung "Amici Israel" verbot.

"Amici Israel"

Die Priestervereinigung "Amici Israel" ("Opus sacerdotale amicorum Israel") wurde 1926 in Rom auf Initiative der jüdischen Konvertitin Sophie (nach der Taufe Franziska) van Leer, der sich der Franziskanerpater Laetus Himmelreich und der Kreuzherr Anton van Asseldonk vom Orden vom Hl. Kreuz anschlossen, gegründet.

Die Vereinigung - der bald etwa 3000 Priester, 287 Bischöfe und 19 Kardinäle, darunter der Erzbischof Michael von Faulhaber und Kardinal Rafael Merry del Val, angehörten - setzte sich für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Katholiken und Juden ein, allerdings mit dem Ziel der Bekehrung der Juden*.

Zu ihren wichtigsten Anliegen zählten: Die Juden sollen nicht weiter des Gottesmordes bezichtigt werden, die Ritualmordlegende und der Vorwurf der Hostienschändung sollen aus kirchlichem Gedankengut verbannt und die Liturgie von antijüdischen Passagen, wie z.B. dem berüchtigten "perfidis" in der Karfreitagsfürbitte, gereinigt werden. Zudem förderten sie, wohl aus theologischen Gründen, den Zionismus, dem der Vatikan ablehnend gegenüberstand.
(Franziska van Leer hielt sich Ende 1924 auch drei Monate lang in einem Kibbutz in Paläsina auf, bis sie, als man herausfand, dass sie nur zur Missionierung da war, freundlichst verabschiedet wurde.)

Mit ihrer unregelmässig erscheinenden Broschüre "Pax super Israel" suchten sie Anhänger für ihre Sache zu gewinnen.

Am 2. Januar 1928 reichte der Vorsitzende, Pater Benedikt Gariador, eine schriftliche Eingabe an den Vatikan ein:

Darin wurde ersucht, die Ausdrücke "perfidis" und "perfidiam" in der Karfreitagsfürbitte zu streichen bzw. durch andere zu ersetzen, sowie die Formel "Beuget die Knie und erhebet Euch" - wie in allen anderen Fürbitten - so auch in der für die Juden wiedereinzuführen. Gemäss den Evangelien seien es nämlich nicht die Juden, sondern die Römer gewesen, die Jesus mit höhnischer Kniebeuge verspottet hatten; auch sei der Brauch, diesen wegzulassen, erst im Laufe des zweiten Jahrtausends entstanden.

Merry del Val versus Ildefonso Schuster

.
Die zuständige Ritenkongregation unter Abt Ildefonso Schuster, den Pius XI. ein Jahr später zum Erzbischof von Mailand und bald darauf zum Kardinal ernannte, stimmte allen Punkten vorbehaltlos zu.

Das letzte Wort in Sachen Liturgiereform aber hatte das Heilige Offizium (die ehemalige Inquisition).

Und hier wendete sich das Blatt.

Das Hl. Offizium konsultierte zunächst den päpstlichen Hoftheologen Pater Marco Sales, der ein negatives Gutachten verfasste, worin es u.a. hiess, vom Standpunkt des Glaubens und der Lehre sei zwar nichts dagegen einzuwenden, doch als "altehrwürdige, bis in die Antike zurückreichende heilige Liturgie" entzöge sie sich jeder Reformierbarkeit. So wie Gott nur mit den Juden einen Bund geschlossen habe, hätten auch nur diese diesen Bund gebrochen und setzten dies ständig fort; darum sei der Ausdruck "perfidi" im Unterschied zu den Heiden für sie angemessen. Also ward sein Beschluss: «Nihil esse innovandum» (nichts soll erneuert werden).

Merry del Val - ein antisemitischer "Freund Israels"

Diesem Gutachten schloss sich Kardinal Rafael Merry del Val, seit 1914 Sekretär des Heiligen Offiziums, an und fügte noch so einiges hinzu. Gewiss war er nicht der einzige Judenhasser unter den "Amici Israel", nur vielleicht einer der ärgsten.

«In einer Sitzung des Hl. Offiziums vom 7. März 1928 kannte del Vals Zorn kein Halten mehr», schreibt Thomas Brechenmacher in "Der Vatikan und die Juden".

Dann könnte ja morgen der Bürgermeister von Rom kommen und verlangen, dass man Pontius Pilatus aus dem Credo streiche, es mache sich schliesslich nicht gut, wenn im Glaubensbekenntnis "gekreuzigt unter Pontius Pilatus" gebetet wird. (Wohl ein Fall von unfreiwilligem Humor?)

Die Liturgie sei ewig, man könne sie nicht einfach so ändern und: "Sie bringt zurecht die Abscheu für die Rebellion und den Verrat des erwählten, treuebrüchigen und gottesmörderischen Volkes der Juden zum Ausdruck."

"Wo ist diese unterstellte aufkeimende Einsicht des jüdischen Volkes? Ich möchte nicht, dass diese Freunde Israels, ohne es zu merken, in eine Falle tappen, die von denselben Juden ersonnen wurde, die überall in die moderne Gesellschaft eindringen und mit allen Mitteln versuchen, die Erinnerung an ihre Geschichte zu zerstreuen und die Gutgläubigkeit der Christen auszunützen."

"Was machen die Juden, wenn sie das Reich Israel wieder aufrichten? Sie werden von dort aus die Kirche vernichten!"
Sie seien ohnehin schon in öffentlichen Ämtern und Parlamenten überrepräsentiert und hätten dadurch zuviel Macht.

Dekret 1928 zur Aufhebung der "Amici Israel"

vom 25. März 1928

Nach mehreren internen Beratungen - einige Eminenzen (ohne Namensnennung) erachteten es auch als unangebracht, darin den Antisemitismus zu verurteilen - erhielt das Dekret zur Aufhebung der "Amici Israel" seine endgültige Fassung aus der Feder Pius' XI. persönlich.

Den vollständigen Text des Dekrets habe ich auch wieder nirgends auf Deutsch gefunden, ausser der Passage mit der Verurteilung des Antisemitismus. Die italienische Übersetzung (so wie sie auch in der «Civiltà Cattolica» abgedruckt wurde?) ist hingegen hier zu finden. Und hier sogar das Original auf Lateinisch ("Decretum de consociatione vulgo «Amici Israël» abolenda, 25 martii 1928)

Also hier meine eigene etwas freie Übersetzung (habe mich bemüht, den Sinn nicht zu entfremden und nur einige "Floskeln" weggelassen):

Am 2. April 1928 in den "Acta Apostolicae Sedis", dem Amtsblatt des Heiligen Stuhles, veröffentlicht:

      Die Hl. Kongregation des Hl. Offiziums sei mit der Prüfung von Wesen und Ziel der Vereinigung "Amici Israel" und ihrer Publikation "Pax super Israel" beauftragt worden.
Die für die Wahrung des Glaubens und der Sitten zuständigen "E.mi Padri" (Eminenzen) hätten zunächst die lobenswerte Absicht der Vereinigung gewürdigt, die Gläubigen anzuhalten, durch Gebet und Tat auf die Bekehrung der Juden zum Reich Christi hin zu arbeiten.
Es sei diesem Ziel gemäss nicht verwunderlich, dass ihr zu Beginn ausser vielen Gläubigen und Priesten auch nicht wenige Bischöfe und Kardinäle beigetreten sind.
War es doch in der kathol. Kirche schon immer üblich, für das jüdische Volk zu beten, das bis zur Ankunft Christi der Verwahrer der göttlichen Verheissungen war - trotz seiner späteren Verblendung, ja gerade deswegen.
Von diesem Geist der Barmherzigkeit getragen, habe der Hl. Stuhl dieses Volk [stets] gegen ungerechte Angriffe in Schutz genommen, und so wie er jeglichen Hass und jede Feindseligkeit zwischen den Völkern ablehnt, so verurteilt er ganz besonders den Hass gegen das einst von Gott auserwählte Volk, jenen Hass nämlich, der heutzutage gemeinhin "Antisemitismus" genannt wird.
Da aber die "Amici" mit der Zeit der Kirche fremdes Gedankengut angenommen hätten, welches nicht dem Geist der Hl. Väter und der Hl. Liturgie entspreche, beschliessen die "E.mi Padri", die Vereinigung "Amici Israel" aufzulösen und erklären sie hiermit für faktisch aufgelöst; weiter ordnen sie an, dass in Zukunft niemand Schriften veröffentlichen soll, welche in irgendeiner Weise solch irrtümliche Initiativen begünstigen.
      Am 22. desselben Monats habe Pius XI. diesen Beschluss gutgeheissen und dessen Veröffentlichung angeordnet.

Auf das Ersuchen, das "perfidis" in der Karfreitagsfürbitte zu streichen bzw. zu ersetzten, wird im Dekret mit keinem Wort eingegangen.

Als hätte man in dem Dekret zu viel Nachsicht mit den Juden walten lassen, und es einiger Klarstellungen bedürfe, erschien kurz darauf ein Artikel in der "Civiltà Cattolica", der vor den Gefahren jüdischer Infiltration warnt und erklärt, wie das "besonders" ("verurteilt ganz besonders den Hass gegen die Juden") in dem Dekret zu verstehen sei (dass diese Interpretation im Sinne Pius XI. war, bezweifle ich persönlich sehr):

ARTIKEL CIVILTA' CATTOLICA

«Civiltà Cattolica»: Antisemitischer Kommentar zum Dekret

.
«Il pericolo giudaico e gli "Amici d'Israele"»
«Die jüdische Gefahr und die "Amici Israel"»

schon der Titel ist eines "Stürmer" würdig ...

von Jesuitenpater Enrico Rosa (derselbe, dem 1938 der Enzyklika-Entwurf «Humani Generis Unitas» zur "Begutachtung" unterbreitet wurde - siehe hier)

Als hätte man in dem Dekret zu viel Nachsicht mit den Juden walten lassen, und es einiger Klarstellungen bedürfe, erschien kurz darauf (Mai 1928) ein Artikel in der "Civiltà Cattolica", der vor den Gefahren jüdischer Infiltration warnt und erklärt, wie das "besonders" ("verurteilt ganz besonders den Hass auf die Juden") in dem Dekret zu verstehen sei (dass diese Interpretation im Sinne Pius XI. war, bezweifle ich persönlich sehr):

« ... die spezielle Verurteilung des Hasses gegen dieses Volk im besonderen, nicht etwa weil es unschuldig oder verdienstvoller als andere wäre, die in gleicher Weise dem Christentum ferne oder abtrünnig sind; sondern weil es aufgrund seiner eigenen Missetaten mehr als andere Völker dem Hasse preisgegeben ist.
Daher auch die feierliche Verurteilung aller ungerechten Verfolgungen, denen es ausgesetzt war, sei es manchmal durch den Zorn der aufgebrachten Plebs ("plebi"), oder durch Aufhetzung durch die Parteien, oder wieder von den Juden selber provoziert durch eigene Ungerechtigkeiten, Schikanen und Anmassungen gegenüber schwachen und hilflosen Armen, wie dies die Geschichte belegt, und nicht nur jene des Mittelalters.»

Auch diesen sehr erhellenden Artikelabschnitt habe ich nur an einer einzigen Stelle im Internet gefunden (dieselbe mit dem Dekret im Wortlaut) - und wieder nirgends auf Deutsch (obige ist wieder meine Übersetzung), obwohl der Artikel z.B. von Hubert Wolf erwähnt und daraus zitiert wird.

Enrico Rosa zitiert in seinem Artikel zuerst das Dekret und erklärt, die "Amici Israel" hätten ihr Ziel der ausschliesslichen Judenmissionierung (in Tat und Gebet) überschritten und «in ihrem Eifer, immer nur die Juden in Schutz zu nehmen und zu entschuldigen», auch zweifelhafte Lehrmeinungen geäussert.

Es folgt obige Präzisierung, wie das "besonders" zu verstehen sei.
Und schliesslich warnt es vor der Gefahr jüdischer Infiltration; diesen Teil übernehme ich aus einem Vortrag von Hubert Wolf vom September 2004:

«Rosa unterschied in fast klassischer Weise zwei Arten von Antisemitismus: die "unchristliche Art des Antisemitismus" und "die gesunde Einschätzung der von den Juden ausgehenden Gefahr". Der rassistische Antisemitismus, [...] werde in dem Auflösungsdekret ausdrücklich verdammt. Doch müsse die Kirche sich "mit gleichem Eifer vor dem anderen, nicht weniger gefährlichen und angesichts des Anscheins der Güte verlockenderem Extrem", in das die Freunde Israel verfallen seien, schützen.

Die "von den Juden ausgehende Gefahr" dürfe man jedoch nicht unterschätzen. Seit der Judenemanzipation seien sie "dreist und mächtig" geworden, sie dominierten weite Teile des wirtschaftlichen Lebens; in Handel, Industrie und Finanzwesen besäßen sie sogar "diktatorische Macht" und hätten "in vielen Sektoren des öffentlichen Lebens ihre Hegemonie" aufbauen können.

Ferner unterstellt Rosa den Juden pauschal, Drahtzieher aller Revolutionen der Neuzeit gewesen zu sein. Sie "schmieden als eigentliche Oberhäupter okkulter Sekten Pläne zur Eroberung der Weltherrschaft". Damit wird das Gespenst einer jüdisch-freimaurerisch-bolschewistischen Weltverschwörungstheorie an die Wand gemalt.»

Im italienischen Original werden auch entsprechende Ausdrücke gebraucht wie "nefasti", "macchinanti", was einen sehr verschwörerischen Unterton hat usw.; das gesamte Vokabular an und für sich ist schon "nefast" für die Juden.

Schlussfolgerungen

NACHTRÄGE

Hier werde ich Nachträge mit Datum einfügen.

Nachtrag vom 18. November 2009
Pacelli (Pius XII.) hielt Bittschreiben gegen Judenverfolgungen zurück

Nachtrag vom 28. März 2010
Stimmen von Zeitgenossen zum Kontrast zwischen Pius XI. und Pacelli (Pius XII.)

Nachtrag vom 29. März 2010
Wer schrieb jenen Satz: "So könnte der Tag kommen, an dem man wird sagen können, dass etwas getan worden ist." ?

Nachtrag vom 30. Mai 2010
Pius XI. setzt sich für jüdische Studenten ein

Nachtrag vom 14. August 2010
"Allgemeiner Tenor" in Rom nach 1945

Pacelli hielt Bittschreiben zurück

Nachtrag vom 18. November 2009

Pacelli (Pius XII.) hielt Bittschreiben gegen Judenverfolgungen zurück

Er leitete als Staatssekretär die zahllosen Bittschreiben, der Vatikan möge etwas gegen die Judenverfolgungen in Deutschland unternehmen, nicht an Papst Pius XI. weiter.


Am 5. November 2009 referierte der Kirchenhistoriker Hubert Wolf an der Universität Wien zum Thema: "Kirchenpolitik im Zeitalter der Diktaturen". Wolf forscht bereits seit 1992 mit einer Sondergenehmigung in den Vatikanischen Geheimarchiven.

Kurzes Fazit seiner langen und wie bei ihm üblich schönfärberischen Rede:
Eugenio Pacelli, der spätere Papst Pius XII., leitete keine einzige der zahlreichen Bittschreiben, gegen die Judenverfolgungen in Deutschland einzuschreiten, an Pius XI. weiter.

Einzig der Brief Edith Steins habe den Papst erreicht (ob durch Pacelli oder auf anderem Wege, ist nicht klar und auch nicht so wichtig.)

Schuld daran ist - man horche - Cesare Orsenigo, der ab 1930 Pacelli als Nuntius in Deutschland ablöste. Pacelli war daraufhin Staatssekretär im Vatikan und als solcher Empfänger sowohl der Berichte Orsenigos als auch dieser zahlreichen Bittschreiben.

Gerade auf Orsenigo - den Wolf in früheren Stellungnahmen als "schwächlichen" Nuntius, der dem Diplomaten Pacelli niemals das Wasser reichen konnte, charakterisierte - soll nun Pacelli gehört und die Briefe aus "Vorsicht" zurückgehalten haben. Das ist geradezu lächerlich und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch diffamierend Orsenigo gegenüber.

Die einzige Erwähnung seines Referats finde ich auf der Webseite der Erzdiözese Wien, auf anderen katholischen Webseiten, wo die Rede auch angekündigt wurde, hält man seine "Funde" offenbar für nicht so wichtig.

Auszug aus dem Bericht über Wolfs Vortrag (auf der Webseite der Erzdiözese Wien):

«Antijüdische Stereotype seien in vatikanischen Dokumenten zwar feststellbar. Doch aufgrund der antisemitischen Exzesse in Deutschland wandte sich Pacelli mit folgender Argumentation an den damaligen Nuntius in Deutschland: Es läge in den "Traditionen des Heiligen Stuhls seine universale Friedens- und Liebesmission allen Menschen gegenüber auszuüben, egal zu welcher sozialen Schicht oder welcher Religion sie auch immer gehören". Hier argumentiere Pacelli auf Basis der Menschwürde, betonte Hubert Wolf. Doch vom deutschen Nuntius kam eine negative Antwortet: eine "Intervention des Vertreters des Heiligen Stuhls" wäre ein "Vorgehen gegen einen befreundeten Staat".

Pacelli habe sich diese Position zu eigen gemacht, stellte Hubert Wolf fest: Ab dem Frühjahr 1933 gab es zahllose Schreiben an den Papst mit der Bitte, die Stimme gegen die antisemitischen Ausschreitungen zu erheben. Der einzige Brief, der den Papst tatsächlich erreichte, war von der konvertierten Jüdin Edith Stein, übermittelt vom damaligen Abt von Beuron. Sie erhielt die Antwort, dass für sie gebetet werde. […]

Auch der Wiener Rabbiner Arthur Zacharias Schwarz, der spätere Schwiegervater des Jerusalemer Bürgermeisters Teddy Kollek, habe sich an Pius XI. gewandt, mit dem er aus der gemeinsamen Studienzeit verbunden war: "Wenn es Eurer Heiligkeit möglich wäre auszusprechen, dass auch das gegen Juden geübte Unrecht ein Unrecht bleibt, so würde ein solches Wort den Mut und die Moral von Millionen meiner jüdischen Mitbürger erhöhen." Diese Schreiben, sei dem Papst nie vorgelegt worden, weiß Hubert Wolf, der aber einen Notizzettel aus dem Sekretariat gefunden hat, auf dem sinngemäß zu lesen war: die Sache sei "molto delicato" [sehr heikel], der Heilige Stuhl werde sich nicht äußern.»

Das sagt uns nun genügend über die "universale Friedens- und Liebesmission" (Wolf), die Pacelli alias Pius XII. beseelte oder auch nicht.

Bei dieser Gelegenheit sei auf die "Zensurberichte", die Dino Messina Mitte dieses Jahres im "Corriere della Sera" veröffentlichte, hingewiesen, hier und hier - schon da bemerkte Messina: "Diese Episode zeigt uns einmal mehr, sollte es noch nötig gewesen sein, die unterschiedliche Haltung, die die beiden Pontifex [Pius XI. und Pius XII.] dem Faschismus und seiner rassistischen Politik gegenüber einnahmen."

Hubert Wolf aber will weiterhin Pius XII. auf Kosten seines Vorgängers - wie dies schon bei anderen Gelegenheiten geschah - und nun auch auf Kosten Orsenigos reinwaschen. Gelingen tut es ihm indes nicht nur nicht überzeugend, sondern gar nicht.

(Schon merkwürdig übrigens, dass Radio Vatikan am 4.8.2005 meinte: «Es gibt zum Beispiel keinen anderen Bericht unmittelbar nach der Reichspogromnacht, der so scharfsinnig die Probleme beschrieben hätte wie ein Nuntiaturbericht von Orsenigo» - «Pacelli habe jedoch meist 'kaum mehr als den Eingang' der Berichte und Eingaben bestätigt», so wörtlich derselbe Hubert Wolf hier.

Mein Eindruck ist, dass Orsenigo sehr wohl ein scharfsinniger Beobachter war und die Lage gut einzuschätzen wusste, sich aber gegen den autoritär auftretenden Pacelli nicht durchzusetzen wusste - ob er dies auch gewollt hätte, wüsste ich mangels Belege nicht zu sagen; dass es Pacelli überdies ganz recht war, einen "schwächlichen" Nuntius - was immer man darunter verstehen soll - gerade an dieser Stelle zu haben.)

Über das Ausbleiben einer Stellungnahme Pius XI. zur Reichspogromnacht, wie auch eines Antwortschreibens an Edith Stein (dass sie "die Antwort, dass für sie gebetet werde" erhielt, bezweifle ich, fragte sie sich doch in ihrer Autobiografie 1938, was wohl aus ihrem Brief an Pius XI. geworden sein mag), will ich noch etwas "recherchieren" - ich will ja nicht wie Wolf zu einseitig werden. (Vorab nur eine Mutmassung: gerade kürzlich habe ich gelesen, Pius XI. sei zur Zeit der Reichspogromnacht krank gewesen, nur diese kurze Bemerkung hier aus einem Wikipedia-Artikel (bevor es womöglich "verschwindet"):
«When Lord Rothschild, a prominent British leader, organized a protest meeting in London against Kristallnacht, Eugenio Pacelli, Vatican secretary of state, acting on behalf of Pius XI, who was then ill, sent a statement of solidarity with the persecuted Jews; the statement was read publicly at the meeting» (aus "Pius War", S. 119).